v.n.z.n Christian Noll

Die Kollektiv-KI

Vincent hasste den Montag, denn er wusste, dass er sich, wie jede Woche, mit der Kollektiv-KI verbinden musste, und das nachdem alle seine Gedanken und Gefühle der vergangenen Woche an die Server der KI übertragen waren, er sich wie immer irgendwie leer fühlen würde, obwohl von öffentlicher Seite stets betont wurde, dass keine Manipulationen an der Gehirnstruktur vorgenommen werden und auch nichts gelöscht wird.

Auf der anderen Seite konnte er sich aber auch noch gut daran erinnern, wie es war, als er sich einmal nicht mit der KI verbunden hatte, und ihm deshalb der Zugang zur Kollektiv-KI für eine Woche gesperrt wurde. Diese Tage ohne die KI waren für ihn ein einziger Albtraum.

Es begann damit, dass ihm beim Arbeitsmeeting keine Daten zu den einzelnen Teilnehmern in seiner Brille eingeblendet wurden und bei der Vorstellung seiner Arbeitsergebnisse musste Vincent auf sein eigenes Gedächtnis zurückgreifen, was ihm hörbar schwer fiel.

Vincent konnte die Verwunderung auf den Gesichtern seiner Arbeitskollegen sehen, denn sie hatten bestimmt noch nicht die Erfahrung gemacht wie es ist, vom KI-Kollektiv ausgeschlossen zu sein.

Nach dem Meeting hatte er versucht die Daten der letzten Woche zu analysieren, um daraus Vorschläge für die Strategie des nächsten Monats zu erstellen. Es wurde ihm aber schnell klar, dass das ohne die KI hoffnungslos war. Deshalb beschloss er, sich für den Rest der Woche krank zu melden.

Zu Hause machte Vincent es sich auf dem Sofa bequem, um einen Film zu schauen auf den er schon lange neugierig war. Nach einer halben Stunde stoppte er den Film wieder, denn ohne die eingeblendeten Kommentare des Kollektivs verlor er sehr schnell das Interesse.

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Als er sich, wie vorgeschrieben, an diesem Montag wieder mit der Kollektiv- KI verbunden hatte, erhielt er nach der Beendigung der Übertragung die Mitteilung, dass bei ihm ein emotionales Defizit festgestellt wurde. Deshalb wurde ihm von der KI vorgeschlagen, sich mit einem weiblichen Mitglied des Kollektivs zu verbinden. Vorschläge von der KI zur Verbesserung seiner gesundheitlichen Situation bekam Vincent regelmässig, aber so ein Vorschlag der KI war neu. Vincent fragte sich ob die KI bei der Frau auch ein emotionales Defizit diagnostiziert hatte. Er hielt das für eher unwahrscheinlich und da die junge Frau auf dem Bild sympathisch auf ihn wirkte, entschied er, sich mit ihr in Verbindung zu setzen.

In der Firma erzählte er nichts von seiner Diagnose und er war sich auch nicht sicher, ob er dazu gesetzlich verpflichtet war. Am Abend sendete er dann eine Nachricht an die junge Frau. In der Antwort erfuhr Vincent, dass ihr Name Ava war.

Bei ihrem ersten Chat stellte Ava klar, dass ihr für die Unterhaltung mit Vincent Punkte auf ihrem Social-Credit Konto gutgeschrieben werden. Vincents eigener Social-Credit Kontostand war schon seit längerer Zeit ins Minus gerutscht.

Trotz Avas Geständnisses während ihrer ersten Unterhaltung, hatte Vincent den unbestimmten Verdacht, dass sie eines dieser Kollektiv-Bots war, von denen ein Freund ihm erzählt hatte. Deshalb fragte er Ava, ob sie auch schon von diesen Bots gehört hätte.

Während ihrer Antwort versuchte Vincent an ihrem Gesichtsausdruck herauszufinden, ob ihre Reaktion authentisch und menschlich ist. Vielleicht war sie auf diese Frage vorbereitet, denn als sie antwortete wirkte ihr Minenspiel auf Vincent ganz natürlich. Ihrer Meinung nach seien Bots technisch möglich und in bestimmten Fällen auch nützlich für das Kollektiv. Daraufhin behauptete Vincent, dass er einen Bot sofort erkennen würde.

Ava war sich da nicht so sicher und fragte Vincent, ob er noch nie daran gedacht habe, dass er vielleicht selber ein Kollektiv-Bot ist.

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